Gefrorener Fluss

Gresas Atem ging hastig ein und aus und sie hatte Mühe, sich noch auf den Beinen zu halten. Sie lief noch immer auf dem vereisten Fluss, denn sie wusste, dass die Kannibalenmänner im Wald waren. Und sie hatte keine Lust als Zufallsfall von Frischfleisch zu enden. Nein wirklich, sie hatte keine Lust in eine Falle zu laufen, jetzt da sie endlich entkommen war. Vielleicht würde sie es ja zu ihrer Familie zurück schaffen, zu ihren Geschwistern. Ob ihr Bruder noch lebte? Und ihre kleine Schwester?
Sie hoffte es sehr und ihr schossen Tränen in die Augen, als sie daran dachte, die beiden könnten fort sein. Gut, es war nicht unwahrscheinlich, dass man in dieser rauen Welt seine Liebsten verlor. Das hieß aber noch lange nicht, dass man sich damit abfinden musste. Gresas Stiefel aus Lederbändern und Fell schlurften über das dicke Eis und sie musste sich zwingen noch weiter zu rennen. Sie musste einfach noch ein Stück schaffen, denn je mehr zwischen ihr und den Kannibalen lag, desto besser. "Komm schon Gresa! Nur noch ein Stück!", murmelte sie und rannte weiter auf dem Fluss, wirklich erschöpft und ohne das Wissen, wo genau sie war. Endlich erreichte sie ein Ufer, das sie beklettert konnte und tat dies auch sogleich. Mit müden Gliedmaßen zog sie sich zu der Böschung rauf und sah sich um. Keine Spur von einer Menschenseele, wie es schien. Doch da man nie sicher genug sein konnte, wollte sie das Risiko eines Feuers nicht eingehen. Als sie noch eine Weile weiter lief, kam sie an einen umgekippten Baum, unter den man sich wunderbar zusammen rollen konnte. Er würde ihr genug Schutz vor Wind und Schnee bieten. Und es war ja auch nur für eine Nacht. Um nicht ganz schutzlos zu sein, baute Gresa eine Rehfalle, die sie von ihrem Vater erlernt hatte. Man grub einfach um sein Lager verschieden große Stöcker halb in den Schnee und wenn ein Angreifer kam, so würde er auf sie treten oder über sie stolpern. In letzter Zeit hatte Gresa sich sowieso angewöhnt, nur noch halb einzuschlafen, weswegen sie von jedem etwas lauteren Geräusch wach werden würde. Als alle Fallen verbuddelt waren, kroch sie in ihren behelfsmäßigen Unterschlupf und rollte sich eng an den Baum gepresst ein. Sie schlief beinahe sofort ein und fiel in einen unruhigen Halbschlaf.

Zeitsprung zum nächsten Tag/Mittag

Gresa wagte kaum zu atmen. Sie lag an einem Hügelhang und blickte über den Kamm hinweg, vorsichtig. Sie sah herunter in eine Mulde, die keine 100 Meter von ihr entfernt von einem Zeltlager eingenommen war. Es waren weiße Felle und Schneebunker: die Kannibalen. Sie waren schon so weit gekommen und es waren weit mehr als 50 Mannen, die dort unten rasteten. Gresa beobachtete sie weiterhin mit größter Vorsicht und sah zu, wie die Männer offenbar etwas planten, denn sie sprachen in kleineren Gruppen miteinander. Gresa konnte nicht verstehen was sie sagten, aber sie war sich sicher, dass sie das Risiko nicht eingehen wollte, geschnappt zu werden. Also schob sie sich langsam den Hang wieder herunter und rappelte sich erst auf, als sie sicher war, dass man sie von dort aus nicht mehr sehen konnte. Nach kurzem Kleiderabklopfen lief sie zurück in den geschützten Wald und lief weiter gen Süden, wo sie sich eine Unterkunft oder ein Lebenszeichen von anderen Stämmen erhoffte. Sie hatte nur das rohe Fleisch eines Fisches bei sich, den sie aus dem Eis hatte bergen können. Inzwischen hatte sie sich auch ein besser gebaut. Es war einfach und bestand nur aus einem geschliffenen Stein, einem Stück starken Holzes und war zusammengebunden mit einem biegsamen Ast. Aber es tat seinen Zweck und Gresa würde es sowieso nur im Notfall benutzen, damit sie die Klinge nicht gleich wieder erneuern musste. Mit einem schnellen Schritttempo lief sie immer am Fluss entlang und verließ erst wesentlich später das Ufer, um tiefer in den Wald hinein zu gehen. Je weiter sie südlich kam, desto größer wurde ihre Hoffnung darauf, dass sie anderen Menschen begegnete. Gresa trug ihre wilden Haare unter ihrer Fell besetzten Kapuze versteckt, die den Wind und die Kälte nur spärlich abhielt. Sie fror jedoch nicht, denn der schnelle Laufschritt hielt sie warm und in Bewegung. So näherte sie sich schon bald einer Gegend, wo viele Lichtungen waren. Nun wurde sie behutsamer, denn hier sah es so aus, als wären die Bäume gefällt worden und nicht einfach abgebrochen. Sie konnte deutliche Spuren von Äxten an den Stümpfen erkennen und folgte der Spur aus gerodetem Wald vorsichtig. Generell schlich sie in leicht gebückter Haltung näher an ein Dorf bestehend aus Hütten heran. So etwas sah sie zum ersten Mal und war doch sehr erstaunt so feste Bauten in der unmittelbaren Nähe der Kannibalen zu sehen.
"Nicht sehr schlau von ihnen....", murmelte sie vor sich hin und hockte sich hinter einen etwas breiteren Baum mit knorrigen Ästen, auf denen ein Rabe saß. Ihre Kleidung war nun gänzlich von Schnee bedeckt, weshalb sie in der weißen Landschaft nicht wirklich auffiel. Zu ihrem Glück, denn man wusste nie welchen Leuten man sich hier näherte...